Verein zur Förderung persönlichen Wachstums e.V.

Der Verein hatte seinen Sitz 1995-2017 in Welschbillig (Nähe Trier/Luxembourg).

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MONIKA UNGRUHE

Geh zu den toten Kindern

 

Meine eigenen Antworten auf den Fragebogen

 

1. Wie alt warst Du bei dem Tod Deiner Geschwister?

Zwei Brüder starben vor meiner Geburt, eine Schwester, als ich vier Jahre alt war.

2. An was kannst Du dich erinnern ? Wie hast Du dich erlebt, wie die anderen?

An den Tod meiner kleinen Schwester habe ich noch einige Erinnerungen: jemand sagte: Anneliese ist tot und ich weiß noch, wie sie in ihrem Bettchen lag. Meine große Schwester lief aus dem Haus - ich wußte nicht, was ich tun sollte und lief ihr hinterher, verlor sie dann aber aus den Augen. Ich dachte, sie sei bei den Nachbarn und ging auch dorthin. Sie war nicht da. Ich erzählte dann den Nachbarn, dass Anneliese gestorben sei.

Ein anderes Bild ist in meiner Erinnerung: Anneliese ist im Hausflur aufgebahrt. Ich sitze seitlich oberhalb von ihr auf der Treppe und schaue auf sie im Sarg herunter. Ich fühle mich traurig, starr, reglos, stumm und unendlich allein. Ich habe kein Bild von anderen Personen, dabei war das Haus sicher voll, denn wir waren eine große Familie. Ich habe auch keine Erinnerung an einen Ausdruck von Trauer wie Klagen oder Weinen.

3. Wie hast Du die Atmosphäre und Stimmung in der Familie wahrgenommen: Zum Zeitpunkt des Todes? In der Zeit danach?

Die Atmosphäre in der Familie war sehr bedrückt und bedrückend. Schon im Uterus habe ich viel von der Trauer meiner Mutter mitbekommen und sie weiter mit der Muttermilch aufgenommen. Zum Zeitpunkt des Todes meiner kleinen Schwester verdichtete sich diese Gefühl noch einmal extrem. In der Zeit danach war es wie eine Grundstimmung, Grundmelodie in der Familie.

Wir lebten neben dem Friedhof. Der Besuch und die Pflege der Gräber war für uns regelmäßige und häufige Normalität. Doch wenn ich versuche, mich an einen Ausdruck von Trauer zu erinnern, so ist das einzige Bild, welches ich habe, dass Mama manchmal mit verweinten Augen aus dem Schlafzimmer kam. Doch ihr Motto war: "Das Leben geht weiter".

4. Welche Gefühle hattest Du selbst: Zum Zeitpunkt des Todes? In der Zeit danach?

Zum Zeitpunkt des Todes war mir - glaube ich - nicht wirklich bewußt, was der Tod bedeutet. Ich weiß nicht, ob ich die Stimmung der anderen aufgenommen habe - jedenfalls ist mein Gefühl, kein Gefühl zu haben bzw. keins äußern zu können, weil alles in mir erstarrt ist. Ich glaube, dass ich beim Tod meiner kleinen Schwester stumm geworden bin im Ausdruck meiner Gefühle. Auch in der Zeit danach war ich unfähig, meine Trauer zu äußern - oder meinte ich, der allgegenwärtigen Trauer nicht noch mehr hinzufügen zu dürfen?

5. Was hättest Du angesichts des Todes Deiner Geschwister gebraucht? Was hat Dir gefehlt?

Jemand hätte mich auf den Schoß nehmen und mit mir weinen müssen. Es hätte mir gestattet sein müssen mit den Anderen, ja miteinander zu weinen. Ich hätte mehr Zuwendung und Emotionalität gebraucht von Mama und Papa und das Gefühl, dass ich auch für sie da bin und für sie wichtig bin (nicht nur die Verstorbene). Ich habe jedoch auch Erinnerung an Wärme und Zuwendung durch meine Oma.

6. Welche Gefühle rufen heute noch die Erinnerung an den Tod Deiner Geschwister in Dir wach?

Auch heute noch bin ich traurig. Es hat für mich immer noch etwas Unfassbares, Ungeheuerliches, dass 3 von 7 Kindern gestorben sind. Ich hätte so gern die beiden großen Brüder gehabt und meine kleine Schwester aufwachsen sehen. Manchmal stelle ich mir vor, welch andere Dynamik es in der Familie gegeben hätte. Nach wie vor ist Trauer in mir über diesen Verlust. Ich glaube und spüre auch, dass ich die Trauer meiner Mutter verinnerlicht habe. Die Bedeutung meiner verstorbenen Geschwister für mich wurde mir besonders deutlich bei Familienaufstellungen und im Trauerseminar.

7. Wie hat Deiner Meinung nach der Tod Deiner Geschwister Dein Leben geprägt und beeinflusst?

Der Tod meiner Geschwister hat mein Leben in vielerlei Hinsicht geprägt.

Ich wurde im Alter von ca. 1 Jahr schwerkrank. Alle hatten mich schon aufgegeben. Mir ist klar, dass ich meinen beiden verstorbenen Brüdern nachgehen wollte, besonders Theo, dem Letzten. (Wollte ich gehen, um auch die Liebe meiner Mutter zu spüren oder wollte ich genauso viel wert sein wie die Verstorbenen?).

Ich habe mich jedoch aus Liebe zu meiner Mutter zum Leben entschieden und wurde gesund. Ich war ein stilles, zurückhaltendes, "stures" Kind, traute mich kaum zu reden. Ich war möglichst unauffällig und angepasst und versuchte den Eltern keinen Kummer zu machen - sie hatten ja schon soviel.

Mein Vater konnte auch nicht ertragen, wenn ich weinte. Er sagte dann: Hör sofort auf zu weinen! Dabei fühlte ich mich oft wie ein großer Trauerkloß und hatte das Gefühl, bis zum Überlaufen voll mit Tränen zu sein. Später unterdrückte ich dann oft meine Tränen, weil ich dachte, wenn ich erst mal anfange zu weinen, kann ich nicht wieder aufhören.

Ich war ängstlich, hatte vor allem Angst im Dunkeln. Häufig überkamen mich Minderwertigkeitsgefühle und später auch depressive Phasen.

Als Kind versteckte ich mich manchmal, wollte, dass ich auch weg bin oder dass meine Eltern mich vermissen und suchen.

Meine Beziehungen waren geprägt von Trennungs- und Verlustängsten. Trennungen und Abschiede hatten oft etwas existenziell Bedrohliches.

Ein Grund für meine Kinderlosigkeit könnte auch in dieser Familiengeschichte liegen.

Sicher war der Tod meiner kleinen Geschwister und meine eigene schwere Krankheit als Säugling ausschlaggebend für meine Berufswahl. Schon mit 13-14 Jahren machte ich Sonntagsdienste im Krankenhaus. Dann wurde ich Kinderkrankenschwester und danach Hebamme. (Typischer Fall von Turbo). Den Hebammenberuf übe ich inzwischen ein paar Jahrzehnte aus. Ich wurde in dieser Zeit auch mit kranken oder toten Kindern und ihren Eltern konfrontiert. Ich empfand großes Mit-Leid, aber auch wieder meine Sprachlosigkeit und Starre. Wo ich doch eigentlich helfen wollte und sollte, erlebte ich zutiefst meine eigene Hilf-Losigkeit, konnte mein Mitgefühl nicht in Worte fassen und in Taten umsetzen. Das fällt mir auch heute noch schwer.

8. Sind Deine verstorbenen Geschwister heute noch für Dich gegenwärtig und wenn ja, wie?

Die verstorbenen Geschwister sind in meinen Gedanken und Gefühlen sehr präsent: Ich habe drei lebende und drei tote Geschwister.

Seit einigen Jahren pflanze ich im Frühling drei Vergissmeinnicht auf meinem Balkon im Gedenken an die drei Toten. In Seminaren unterschiedlicher Art tauchen sie immer wieder auf, bzw. meine Trauer um sie und meine Gefühle zu ihnen, zuletzt in dieser Weiterbildung und Abschlussarbeit. Meine nicht gelebte, nicht ausgedrückte Trauer findet nun endlich ihren Ausdruck und hat jetzt die Chance, von lebenshindernder in lebensfördernde Trauer umgewandelt zu werden.

Fortsetzung...

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