URSULA MÜLLER
ALBERT SCHWEITZER - LEBEN UND WERK
Vorwort
Geschichtlicher Rahmen
Zeitgenossen und
Lebensdaten
Vorwort
Über Albert Schweitzers Lebenslauf gibt es hinreichend gute Lektüre, so dass ich darauf verzichten werde, diese nochmals chronologisch oder nach Schwerpunkten geordnet zusammenzufassen. Stattdessen möchte ich hier einige Empfehlungen weitergeben. Allen voran seien die beiden autobiografischen Bücher genannt:
Aus meiner Kindheit und Jugendzeit deckt etwa den Zeitraum bis zum Abitur ab. Aus meinem Leben und Denken stammt von 1931 und endet durch diesen Umstand bedingt zu diesem Zeitpunkt, genauer 1929. Diese beiden Arbeiten sind chronologisch aufgebaut, lesen sich leicht - wie Schweitzer überhaupt bei seinen sämtlichen Büchern um Einfachheit der Sprache bemüht ist, ohne deswegen primitiv zu wirken. Weiterhin habe ich Zwischen Wasser und Urwald als geradezu kurzweiligen und doch sehr informativen Erlebnisbericht seines ersten Afrika-Aufenthalts empfunden.
Wer es lieber kürzer mag, sollte sich an eine Zusammenfassung von Schweitzers Selbstzeugnissen von Jacques Feschotte aus dem Jahr 1952 halten. Es ist in dem Buch Albert Schweitzer, Genie der Menschlichkeit enthalten. Darin befindet sich auch ein kurzer, eher literarischer Beitrag von Stefan Zweig über eine Begegnung mit ihm. Als interessante Alternative kann ich auch die Rowohlt-Monografie von Harald Steffahn empfehlen. Sie umfasst das ganze Leben Schweitzers, ist thematisch geordnet und enthält viele Fotos.
Eine Auflistung seiner BUCHTITEL UND SCHRIFTEN mag als Ausdruck dafür genügen, wie viel dieser Mann gearbeitet hat. Zum Teil sind die Bücher auch schon Beispiel seines Bedürfnisses, für andere tätig zu werden. Denn die beiden Bachausgaben hat Albert Schweitzer nur auf Bitten des Pariser Organisten Charles Marie Widor und eines Verlegers geschrieben. Und die Bücher über die Leben-Jesu-Forschung sind entstanden, weil er bei seinen Studenten an der Straßburger Universität entsprechenden Bedarf ausmachte. Ablesen lässt sich an seinem Schrifttum ebenfalls, welch große Rolle Wort und Sprache(n) für ihn spielten. Daneben gibt es sowohl von Freunden veröffentlicht als auch aus dem Nachlass eine schier endlose Menge von Briefen. Etliche seiner Vorträge wurden ebenfalls als Buch herausgegeben, u.a. aus den letzten Lebensjahren Friede oder Atomkrieg.
Um so viele Buchstaben - in welcher Form auch immer - zu Papier zu bringen, muss ein Mensch neben den zahllosen weiteren Beschäftigungen erst einmal die Zeit finden, oder genauer: sich die Zeit nehmen. Albert Schweitzer war immer wieder dafür dankbar, über eine solch robuste Gesundheit zu verfügen. Sie äußerte sich u. a. darin, dass er mit sehr wenig Schlaf auskam, - ein Umstand, der ihm erst dieses Arbeitspensum erlaubte.
- 1898 in französisch verfasste Gedenkschrift zum frühen Tod seines ehem. Musiklehrers, der ihn an Bach heranführte, dem Organisten Eugen Münch
- 1898/99 Kant-Dissertation
- 1901 Habilitation über Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis
- 1905 J.S. Bach, le musicien-poète (in frz. Sprache auf Anregung von Charles MarieWidor geschrieben)
- 1906 Deutsche und französische Orgelbaukunst
- 1906 Von Reimarus zu Wrede (die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, v. a. für Studenten gedacht)
- 1908 J.S. Bach (auf deutsch völlig neu geschriebenes und noch umfangreicheres Werk als das französische)
- 1909 Internationales Regulativ für Orgelbau (mit F.X. Mathias)
- 1911/12 Geschichte der Paulinischen Forschung
- 1913 Dissertation über Die psychiatrische Beurteilung Jesu
- 1913 Abschluss der erweiterten Leben-Jesu-Forschung
- 1915 Ehrfurcht vor dem Leben und Arbeit an der Kulturphilosophie
- 1920 Zwischen Wasser und Urwald (spannendes Buch über den 1. Afrika-Aufenthalt)
- 1923 Verfall und Wiederaufbau der Kultur
- 1923 Kultur und Ethik
- 1924 Aus meiner Kindheit und Jugendzeit
- 1930 Die Mystik des Apostels Paulus
- 1935 Die Weltanschauung der indischen Denker (Das Buch gibt einen ausgezeichneten Überblick und damit guten Einstieg in das Thema! Hauptlinien sind klar herausgearbeitet, ebenso Zusammenhänge und Unterschiede.)
- 1938 Afrikanische Geschichten
- 1950 Ein Pelikan erzählt aus seinem Leben
TITEL UND EHRUNGEN geben darüber hinaus eine Ahnung davon, welche Ausstrahlung dieser Mensch hatte. Der Umfang kann derart erschlagend wirken, dass man sich fragt: Wie kann das in einem einzigen Menschenleben möglich sein? Manch einer gäbe etwas darum, sich nur mit einem davon schmücken zu können.
- 1899 Doktor der Philosophie
- 1900 Lizentiat der Theologie (entspricht einem Doktor-Titel)
- 1913 Doktor der Medizin
- 1920 Ehrendoktor der theol. Fakultät in Zürich
- 1925 Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät der dt. Universität zu Prag
- 1928 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt für sein gesamtes literarisches Werk (das Geld erlaubt den Bau des Günsbacher Hauses im Elsass, seiner neuen Anlaufstation und "Verwaltungszentrale" in Europa nach dem Tod des Vaters)
- 1930 Ruf an die Universität Leipzig, theol. Fakultät (abgelehnt)
- 1932 Einladung zu einer Rede zum 100. Todestag Goethes in Frankfurt a.M.
- 1949 Einladung zu einer Rede in Aspen, Colorado zum 200. Geb. Goethes
- 1952 Friedenspreis des deutschen Buchhandels
- 1952 Prinz-Karl-Medaille, verliehen vom schwedischen König
- 1952 Ehrenmitgliedschaft der Académie des Sciences Morales et Politiques in Paris
- 1952 Paracelsus-Medaille (erste medizinische Ehrung)
- 1952? Ehrenbürgerrecht der Stadt Munster im Elsass
- 1953 Friedensnobelpreis rückwirkend für 1952 (nach Lambarene geschickt; 1954 durch König Haakon in Oslo übergeben; die Preissumme erlaubt ein Lepradorf in Lambarene "aus einem Guss")
- 1955 Orden Pour-le-Mérite (überreicht von Theodor Heuss)
- 1959 Sonning-Preis (in Kopenhagen entgegengenommen, das Geld wird in Lambarene investiert)
- 1960 Albert Schweitzers Porträt auf der ersten 200 Francs-Briefmarke der neu gegründeten Republik Gabun
Die Aufzählungen möchte ich noch durch zwei Stichwort-Pakete ergänzen. Das erste betrifft Charakterzüge, die mir ganz besonders auffielen und teilweise sehr imponierten:
- die Fähigkeit, Interessenvielfalt mit Tiefgang zu kombinieren
- die ausgeprägte Strukturiertheit
- Entschlusskraft, die ihn auch größte Hindernisse überwinden lässt
- der Reiz, Herausforderungen anzunehmen und die Disziplin, auch Dinge zu bewältigen, die ihm weniger liegen
- ausgeprägte Einfachheit und Bescheidenheit in allen erdenklichen Lebensbereichen
- Pflichtgefühl und Dankbarkeit
- die Pflege persönlicher Beziehungen und ihre Bedeutung für Schweitzer
- der Umgang mit Heimat, Nationalität und Zweisprachigkeit
- tiefe Religiosität und große Empfindsamkeit
- Wahrung seiner Mitte (trotz Vielseitigkeit keine Verzettelung)
Der letzte Block wirft ein Licht auf die vielen Aktivitäten und Interessen, mit denen er sich mindestens über lange Zeiträume immer wieder einmal beschäftigte und mit denen er früher oder später auch Geld verdiente, um sein Lebenswerk Lambarene zu finanzieren. Meistens handelt es sich um Verzahnungen, denn bei ihm lief vieles im Leben parallel oder griff nahtlos ineinander:
- Theologie: Studien, Predigen (erst mit Anstellung in Straßburg, später in Lambarene) und Dozententätigkeit an der Universität Straßburg
- Musik, Musik und nochmals Musik, insbes. Orgelspiel (von Kindheit an), Orgelbau und Leidenschaft für Bach
- philosophische Studien und Entwurf der Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben
- Schriftstellerei zu allen seinen Interessengebieten (Religion, Kultur, Philosophie, Musik, Orgelbau)
- medizinische Studien, sein Wirken als Arzt
- Bauherrentätigkeit (Lambarene war immer wieder zu klein)
- Vorträge an vielen Universitäten Europas
Wie die Welle nicht für sich sein kann, sondern stetig an dem Wogen des Ozeans teilhat, also können wir unser Leben nie für uns allein erleben, sondern immer nur in dem Miterleben des Lebens, das um uns her statthat. Albert Schweitzer
In diesem Sinne werde ich im Folgenden den Versuch machen, Albert Schweitzers Lebenslauf in den Verlauf der Geschichte einbetten. Entscheidend ist dabei für mich die Frage, in welcher Zeit und durch welche Einflüsse Schweitzer in seinen jungen Jahren geprägt wurde.